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Nach 10 Jahren Negativzinsen: Die Kehrtwende der EZB

Nach zunehmendem Druck und langem Zögern reagiert die Europäische Zentralbank auf die anhaltende Inflation im Euroraum und hebt ihren Leitzins an. Im Juli um 25 und im September um 50 Basispunkte, so EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf der Juni-Sitzung des EZB-Rates Anfang des Monats. Damit ist klar: Nach etwa 10 Jahren des billigen Geldes ist nun Schluss mit der europäischen Negativzinspolitik. Das gilt auch für die in der Corona-Pandemie hochgefahrenen Anleihenkaufprogramme, die nun flexibilisiert werden bzw. beendet werden sollen.

Rezession versus Inflation: ein schmaler Grat
Mit einiger Verzögerung folgt die EZB damit also dem US-amerikanischen Vorbild der Federal Reserve (Fed). Das Resultat: Bei europäischen Staatsanleihen kam es neben steigenden Zinsspreads, der Differenz zwischen den Zinssätzen, auch zu einigen Turbulenzen. Für Anleger bedeutet die geldpolitische Straffung künftig weniger Liquidität, aber auch den Wegfall der Verwahrungsentgelte. Aktuell besteht für die EZB jedoch ein geldpolitisches Dilemma: Die Anhebung des Leitzinses soll in erster Linie dafür sorgen, dass die Inflation eingedämmt wird. Während der vergangenen 10 Jahre war der Leitzins stets negativ, oft auch Strafzins genannt. Steigende Verbraucherpreise zwingen die EZB nun jedoch zum Handeln, um für Preisstabilität zu sorgen. Das Problem: Steigt der Zins, geht die Nachfrage nach frischem Geld und damit potenziell auch das Wachstum der Wirtschaft im Euroraum zurück.

Es droht die Gefahr einer Rezession – bzw. in Kombination mit den Preisanstiegen einer Stagflation. Für Deutschland hat das Ifo-Institut seine Konjunkturprognose für 2022 beispielsweise schon von 3,7 % auf aktuell 2,5 % korrigiert. Die EZB bewegt sich mit ihrer restriktiven Geldpolitik also auf einem schmalen Grat zwischen Inflationsbekämpfung und wirtschaftlichem Abschwung. Von Letzterem betroffen sind dabei neben Privathaushalten und Unternehmen auch die Eurostaaten selbst, da ihre Zinszahlungen auf Staatsanleihen durch die Anhebung nun ebenfalls zunehmen. Bei Ländern mit einer geringen Zahlungsfähigkeit schlägt das besonders deutlich ins Kontor. Und bedeutet neben höheren Zinslasten wahrscheinlich auch ein schlechteres Bonitätsranking und damit zusätzliche Kosten in Form einer höheren Risikoprämie.

Nächste Eurokrise vorprogrammiert?
Mit anderen Worten: Für die EU-Länder werden kreditfinanzierte Staatsausgaben künftig deutlich teurer. Und sinkende Staatsausgaben gehen für gewöhnlich mit einer noch schwächeren Wirtschaft einher, was besonders Länder wie Italien und Griechenland treffen wird. Bei ihrem Straffungskurs wird die EZB deshalb sehr genau auf die Konjunktur dieser Eurostaaten schauen müssen. Im Fokus dabei sind vor allem italienische Staatsanleihen, deren Zinsen als Reaktion auf die Geldpolitik deutlich gestiegen und deren Kurse eingebrochen sind. Ganz anders ist die Situation dagegen bei weitaus kreditwürdigeren Euroländern wie Deutschland, deren Anleihen nur moderat auf die Zinsanstiege reagiert haben. Um das Auseinanderdriften der europäischen Zinsspreads – in der Fachsprache auch Fragmentierung genannt – zu verhindern, hat der EZB-Rat Mitte Juni bereits eine Notfallsitzung abgehalten.

Bei vielen Marktbeobachtern hat das Erinnerungen an die Eurokrise von 2013 wachgerufen. Damals geriet Griechenland aufgrund einer hohen Verschuldung und sehr hoher Kreditzinsen an die Schwelle der Zahlungsunfähigkeit. Um einem solchen Szenario sofort einen Riegel vorzuschieben, verwies EZB-Direktorin Isabel Schnabel auf die Handlungsfähigkeit der Zentralbank. So wolle man einer zu starken Fragmentierung im Notfall mit den flexiblen Kaufprogrammen der EZB begegnen. Inwieweit das die Anleihenmärkte wieder beruhigt, bleibt abzuwarten. Ein wichtiger Faktor dürften die anstehenden Konkretisierungen des weiteren Zinspfades in den kommenden Sitzungen sein.

Ungewissheit auf den Aktienmärkten
Bis dahin dürften die Diskussionen um die EZB im Euroraum weiter angespannt bleiben. Was in ähnlicher Weise auch für den US-amerikanischen Raum gilt. Hier hat sich die Fed im Frühjahr bereits auf einen konsequenten Straffungspfad mit insgesamt 6 angekündigten Zinsschritten begeben. Doch damit nicht genug: Mitte Juni legte die Hüterin des US-Dollars noch einmal nach – und zwar in historischem Ausmaß. Ganze 75 Basispunkte kündigte der Beschluss der Fed an, was den Leitzins auf eine Spanne von 1,5 bis 1,75 % erhöht. Bis Jahresende könnten es laut Fed-Cef Jerome Powell sogar 3,6 % werden. Der Zinssprung stellt die höchste Anhebung seit 1994 dar und soll die ebenfalls historische US-Inflation bekämpfen. Das Signal: Im Zweifelsfall wird man alle Hebel umlegen, um die Inflation zu bekämpfen.

Eine Maßnahme, die vor allem auf eine deutliche Signalwirkung bei Anlegern abzielt, genauso wie es auch bei der EZB der Fall ist. So will die europäische Notenbank an Glaubwürdigkeit gewinnen und die Inflationserwartungen am Markt stabilisieren. Die wiederum sind entscheidend für die tatsächliche Inflation und könnten deshalb die Preisdynamik dämpfen und die Teuerungsraten abflachen. Doch nicht wenige Anleger halten die derzeitigen Maßnahmen noch immer für zu schwach. Das Resultat auf den Aktienmärkten: Verunsicherung, die sich in fallenden Kursen niederschlägt.