Börsenweisheiten hinterfragt:
„Die Flut hebt alle Boote“
Die Redewendung „Die Flut hebt alle Boote“ hat ihren Ursprung in einer Rede des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Er verwendete diesen Ausdruck, um die positiven Effekte wirtschaftlicher Maßnahmen auf die gesamte Gesellschaft, zu beschreiben. In seiner Rede 1963 in einer Werft in Boston erklärte Kennedy, dass ein allgemeiner wirtschaftlicher Aufschwung nicht nur wenigen zugutekommen solle, sondern allen Mitgliedern der Gesellschaft. Der Satz war dabei ein eindringliches Plädoyer für eine Politik, die Wohlstand nicht nur den ohnehin schon Wohlhabenden, sondern allen Bürgern zugänglich machen sollte.
Seither hat die Redewendung „Die Flut hebt alle Boote“ neue Konnotation in den Finanzmärkten gefunden. An der Börse wird damit ausgedrückt, dass in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums, etwa durch expansive Geldpolitik oder staatliche Konjunkturprogramme, die Kurse aller Aktien tendenziell steigen können. Egal ob Blue Chips, mittelständische Unternehmen oder Startups – alle können von der guten konjunkturellen Lage profitieren. Wenn Liquidität in die Märkte fließt, sei es durch niedrige Zinsen oder durch andere geldpolitische Maßnahmen, hebe dies die meisten Aktienkurse, zumindest kurzfristig.
Doch inwiefern trifft diese Redewendung heute auf die Aktienmärkte zu? Tatsächlich gibt es fundamentale Einflussfaktoren, die tendenziell die Mehrheit aller Aktien begünstigen können. Zu nennen wären hier insbesondere eine lockere Geldpolitik, finanzpolitische Stimulus-Programme und ein stabiles geopolitisches Umfeld. Diese Faktoren können wie eine Flut wirken, die die Märkte anhebt, da sie die Investitionsbereitschaft der Marktteilnehmer erhöhen und die Renditeerwartungen positiv beeinflussen können. Niedrigere Zinsen können bewirken, dass Anleihen und verzinste Einlagen weniger attraktiv für Anleger werden.
Ein anschauliches Beispiel aus den letzten Jahren ist der Aufschwung der US-Aktienmärkte, insbesondere im Vergleich zu europäischen und chinesischen Märkten. Während die expansive Geldpolitik der Federal Reserve nach der Finanzkrise 2008 und erneut während der COVID-19-Pandemie die US-Märkte stark beflügelte, konnten europäische und chinesische Märkte mit diesem Tempo nicht mithalten. Der S&P 500 hat sich seit dem Tiefpunkt 2009 mehr als verachtfacht, während europäische Indizes wie der DAX und der Euro Stoxx 50 deutlich hinterherhinken. Die Flut hob also alle Märkte, die US-Märkte aber weitaus stärker.
Noch deutlicher wird der Effekt bei der Betrachtung einzelner Unternehmen. Die großen US-Technologiekonzerne, oft zusammengefasst unter Akronymen wie „FAANG“ (Facebook, Amazon, Apple, Netflix, Google) oder „MAG-7“ (Microsoft, Apple, Google, Amazon, Nvidia, Tesla, Meta), haben in den Zeiten der „Flut“ besonders profitiert. Diese Unternehmen verfügen über starke Bilanzen, dominieren ihre jeweiligen Märkte und haben tiefe „Burggräben“. In den letzten Jahren haben sie die globalen Aktienmärkte förmlich angeführt, während viele kleinere Unternehmen, vor allem solche mit schwachen Geschäftsmodellen und geringeren finanziellen Reserven, weit weniger stark abgeschnitten haben.
Nicht alle Aktien und Marktsegmente profitieren also gleichermaßen und nachhaltig von „Fluten“. Starke und gut gemanagte Unternehmen, die in wachsenden und zukunftsträchtigen Branchen tätig sind, entwickeln sich über längere Zeit zumeist besser. Als schwächere Unternehmen, die vielleicht nur kurzfristig von der allgemeinen Markteuphorie getragen werden. Daher ist eine langfristige Betrachtung immer wichtig, da so der Unterschied zwischen einem allgemeinen Marktaufschwung und der langfristigen Wertentwicklung einzelner Werte deutlicher erkennbar wird.
Dieses Phänomen beschreibt die gegensätzliche Börsen-Redewendung sehr treffend: „Bei Ebbe sieht man, wer ohne Badehose im Wasser war“. Sie bedeutet, dass in konjunkturell schwierigen Zeiten, also wenn die „Flut“ zurückgeht, sichtbar wird, welche Unternehmen wirklich Substanz haben und welche nur durch den allgemeinen Auftrieb über Wasser gehalten wurden. Unternehmen mit schwacher Bilanz, mangelndem Innovationsvermögen oder in stagnierenden Branchen, werden in Krisenzeiten eher „nackt“ dastehen. Und möglicherweise auch stark an Wert verlieren.
Das zeigt sich auch an den verschiedenen Marktsegmenten und geografischen Märkten: Während die US-Technologieaktien ihren Aufschwung seit der Corona-Pandemie weiter fortsetzen konnten, haben beispielsweise viele europäische Unternehmen aus „alten“ Industriebranchen unter branchenspezifischen Unsicherheiten und mangelnden Wachstumsimpulsen gelitten. Am Beispiel China lässt sich beobachten, dass auch regulatorische Eingriffe und geopolitische Spannungen zu ernsthaften Bremsklötzen für einzelne Märkte werden und selbst Aktien starker Unternehmen des jeweiligen Landes unter Druck setzen können.
Die Redewendung „Die Flut hebt alle Boote“ beschriebt also einen Aspekt des Aktienmarktes. Dient aber keinesfalls als Plädoyer für Wahllosigkeit bei der Auswahl von Aktien, Aktiensegmenten oder -märkten. Denn letztlich kommt es sowohl auf die fundamentale Stärke als auch auf die strategische Ausrichtung einzelner Unternehmen, Branchen und Volkswirtschaften an, um auch die nächste „Ebbe“ gut überstehen zu können.